Interview mit Volker Schönwiese

Gut. Genau. Und dann würde ich auch gleich schon anfangen und fragen, wie bist du denn eigentlich zur integrativen Pädagogik gekommen, also was war dein persönlicher Werdegang/Zugang?

Persönliche Schullaufbahn als Kind mit Polyarthritis

Okay. Also ich bin ja schon die vorgestrige Generation – das ist jetzt nicht mich selbst abwertend gemeint – sodass ich zu einer Zeit zur Schule gegangen bin, als es die Sonderschulen bei uns noch nicht so weit spezialisiert gegeben hat wie heute. Das heißt, Ende der 1950er Jahre hat es noch keine spezialisierte Sonderschule für Körperbehinderte in Tirol gegeben. Zu dieser Zeit, als meine Krankheit begonnen hatte, und ich schulischen Unterstützungsbedarf gebraucht habe, da ging ich gerade in die erste Klasse des Gymnasiums, und niemand wusste: Wie soll das weitergehen? Wäre eine spezialisierte Sonderschule für Körperbehinderte vorhanden gewesen, wäre ich unmittelbar dort gelandet und hätte einen Sonderschul- oder bestenfalls einen Hauptschulabschluss erlangt, das wäre es gewesen. Es gab damals aber keine Alternative und meine Eltern als Akademiker waren sehr um meine Bildung bemüht, und es war dann die Frage, wie es mit der Schule weitergehen soll. Es passierte daraufhin etwas Klassisches, das bis heute noch exemplarisch ist: Die Schule wollte nicht entscheiden. Was macht eine Schule, wenn sie etwas nicht will? Sie sagt, wir brauchen erst einmal ein medizinisches Gutachten und verweist auf den Landesschulrat, die höchste Schulbehörde. Es wird zurückgewiesen, bevor überhaupt irgendeine Form der Willenskundgebung formuliert wird, ob das Kind willkommen ist oder nicht. Damals war Hans Asperger, nach dem das Asperger-Syndrom benannt ist, in Innsbruck an der Klinik tätig, als Leiter der Kinderklinik. Meine Eltern sind zu ihm gegangen, unsicher und verzweifelt, es war die Frage, was jetzt zu tun ist. Ja, und Asperger hat gesagt, lassen sie mich machen, ich schreibe ein Gutachten. Er hat mich testen lassen und schrieb ein Gutachten: Kinder mit Polyarthritis sind nach dem Stand der Wissenschaft durchwegs höchst begabt und eine Schulbehörde, die dies nicht berücksichtigt, macht aus heilpä­dagogischer Sicht einen schweren Fehler. Jetzt war dies eine reine Erfindung, aber diese Zuschreibung, es gibt auch positive Stigmatisierungen, hat ein Eigenleben gewonnen. Ich war sicher ein kluges Kind, aber von wegen hochbegabt, ich weiß nicht, ich hatte jede Menge Schwierigkeiten beim Lernen und schlechte Schulnoten … Ja, und dann war die Schulbehörde im Dilemma. Geht sie in Konflikt mit dem berühmten Heilpädagogen oder legt sie sich mit der Schule an, die mich nehmen müsste. Die Schulbehörde legte lieber der Schule nahe – man kann auch sagen, sie hat sie gezwungen – für mich eine Lösung zu finden. Ich wurde als Externist der regionalen Schule zugeordnet, es wurde eine Art Teilintegration entwickelt, teilweise war ich im Unterricht anwesend – je nach Gesundheitszustand, und zum großen Teil nicht. So bin ich durch das Gymnasium gerutscht. Es war eine Form von wilder Integration. Die Teilintegration funktionierte mehr schlecht als recht, aber getragen von Hauslehrern hat sie mithilfe sehr viel wohlwollender Unterstützung von den LehrerInnen der Schule und der Hilfe von MitschülerInnen, die mir ihre Hefte zum Mitlernen brachten und unterstützten, soweit funktioniert, dass ich Matura machen konnte. Also von daher ist mir das Thema der Schulintegration schon aus meiner Schulzeit nahe und ich denke, einige Jahre später wäre ich ohne viel Diskussion in einer Körperbehindertensonderschule gelandet, ja. Diese Glückssituation ist lebensgeschichtlich bei mir völlig präsent. Völlig klar, dass ich ein Gegner von Sonderschulen bin, ja, und völlig klar, dass ich immer gegen Sonderschulen agiert habe.

Beginn der Integrationsbewegung in Österreich

Mit dem Beginn unserer Behinderteninitiative in Innsbruck Ende der 1970er Jahre, als Beginn der Selbstbestimmt Leben-Initiativen in Österreich 1976, war immer auch ein inhaltlicher Punkt die Forderung nach schulischer Integration. Dann kam Anfang der 1980er Jahre, die Begegnung mit Eltern von behinderten Kindern, die ebenfalls angefangen hatten für Integration zu kämpfen. 1977 hatte es ja in Italien das Integrationsgesetz gegeben, natürlich auch in Südtirol gültig, und mit diesem Wissen haben sich die ersten Gespräche und Koalitionen zwischen der Initiativgruppe und Eltern in Richtung Schulintegration entwickelt. Im Konzept von »Selbstbestimmt Leben«, auch in dieser frühen Phase, war die Orientierung an schulischer Integration selbstverständlich, gegen Heimsonderschulen, gegen Sonderschulen, gegen Heime. Also von daher ist meine Motivation Teil meiner Lebensgeschichte, da brauche ich keine Sekunde darüber nachdenken.

Sodass du dann nach dem Abi dann Lehramt studiert hast?

Studium

Nein, nein. Ich habe nicht Lehramt, sondern Psychologie studiert, Psychologie und Pädagogik, und war während meines Studiums intensiv beim Aufbau von diesen ersten unabhängigen Behinderteninitiativen engagiert. Aus unserer Innsbrucker Initiative hatten sich in der Folge einerseits der erste Integrative Kindergarten in Österreich und der erste mobile Hilfsdienst, ein ambulanter Dienst als Selbsthilfeorganisation, und dann ein Selbstbestimmt-Leben-Zentrum entwickelt – aber dies ist eine zu lange Geschichte, die ich jetzt erzählen müsste.

Gerne.

Konfliktlinien
wie heute

Gut, die ganze Geschichte erzähle ich jetzt nicht, sonst geht uns die Zeit für unser Thema hier ab. Aber ich kann einen bestimmten Zusammenhang herstellen. Es war mir ja aus den kritischen Diskussionen, der kritischen Psychologie der 1970er Jahre, heraus klar, dass das Thema Behinderung eine Frage der ganzen gesellschaftlichen Subsysteme ist und auch der gesellschaftlichen Kultur und dieser ganzen Fragen von – wie es damals geheißen hat – Randgruppenpolitik, also das war alles damals Ende der 1970er schon völlig klar. Wenn du willst, kannst du dazu im Internet eine Fernsehdiskussion vom Jänner 1980 ansehen, den Film kann ich dir auf YouTube noch zeigen50. In der ORF-Club2-Fernsehdiskussion war Ernst Klee, der dir wahrscheinlich bekannt ist, mit mir in Konfrontation mit einem Heimvertreter und dem wichtigsten ärztlichen Experten für die Heilpädagogen in Österreich, Andreas Rett – dem Erfinder des Rett-Syndroms. Da kannst du nachhören, dass die Konfliktlinien damals Ende der 1970er Jahre so ziemlich identisch waren mit denen heute, identisch thematisch und inhaltlich, alle heute ausdifferenzierten Argumentationslinien waren schon vorgelegen, also bitte, dies ist jetzt über 35 Jahre her. Insofern steht die Frage im Raum, wo sind wir denn heute eigentlich gelandet und was hat sich geändert oder nur differenziert im Vergleich zu damals, das ist eine Frage. Die analytische Trennung zwischen Fragen der institutionellen Diskriminierung, Kultur, Politik und Ökonomie, war bei uns argumentativ nicht so klar vorhanden, und zwar bei allen Fragen und nicht nur bei Schule, bei allen Fragen. Die Beachtung von Teilaspekten war damals unwichtiger als heute, weil damals das Gefühl dominierte, einer mächtigen historisch entstandenen Machtstruktur gegenüberzustehen, gegenüber der wir sowieso chancenlos sind. Die Stimmung war: wir ungebundenen Einzelpersonen, Teile von winzigen widerständigen Gruppen, was sollen wir da überhaupt, wir sind frei im Denken, wir haben keinerlei institutionalisierten Zwang irgendwie zu denken, uns irgendwo anzupassen und so weiter. Alle Themen waren sehr ganzheitlich präsent damals, mit viel Chaos und wenig wissenschaftlicher Reputation, dominant war der Widerstandsgeist.

Wie ging es dann weiter, also der Weg dann wieder zurück zur Uni, Promotion, oder?

Universität: Schwerpunkt Integrative Pädagogik

Ich habe 1983 dann an der Uni Innsbruck angefangen mit dem Schwerpunkt Integrative Pädagogik. Der Effekt meiner Anstellung war, dass ab dem Moment, an dem ich 1983 begonnen hatte, keine traditionellen SonderpädagogInnen mehr einen Lehrauftrag in der Studienrichtung Erziehungswissenschaften in Innsbruck bekommen haben. Jetzt könnte ich noch länger Hintergründe erzählen, wie es gelungen ist, dass ich als bekannt kritische oder für manche Uni-Angehörige unbequeme behinderte Person diese Anstellung bekommen habe, ich erspar es mir jetzt die ganze Geschichte zu erzählen, sonst wird alles zu lang werden.

Na gut. Ich finde es ja immer ganz spannend gerade zu schauen, wie sind die Leute dahin gekommen sind, wo sie dann waren und was für Geschichten da eigentlich noch so hinter stecken. Na gut.

Na, wenn du willst, kann ich schon erzählen.

Ja, gerne.

Forderung nach Mitbestimmung an der Universität

Also, ich habe Psychologie studiert und an dem Institut für Psychologie waren drei AssistentInnen, die von der Pädagogik hinausgeworfen worden waren, weil sie zu kritisch waren, zu sehr Mitbestimmung eingefordert haben zum Beispiel. Kritische Psychologie und Kritik der klassischen empirischen quantitativen Pädagogik waren damals sehr umstritten. Diese drei AssistentInnen – Eva Köckeis, Peter Gstettner und Peter Seidl – hatten einen geschichtsträchtigen Institutskonflikt um Mitbestimmungsmodelle an der Universität initiiert, welcher Einfluss auf die Universitätsgesetzgebung 1976 in Österreich hatte, in Richtung Einführung von Drittelparität bei den meisten universitären Entscheidungen. Das Ergebnis in Innsbruck war aber eine Befriedung, die drei WissenschaftlerInnen wurden an das Institut für Psychologie versetzt. Ich studierte am Institut für Psychologie und hatte mich stark an Peter Gstettner orientiert und mit ihm auch kooperiert.

Projekt mithilfe von Aktionsforschung

Peter Gstettner, der dir vielleicht bekannt ist, war ein Vertreter der Aktionsforschung. Bei ihm habe ich dann auch Vorlesungen besucht und ihn etwas angejammert, ich würde gerne ein Projekt anfangen. Ich hatte Goffmans Buch Stigma gelesen und dachte, das war Mitte der 1970er Jahre, ich will ein Projekt zum Thema Behinderung beginnen, mein eigenes Thema bearbeiten. Nachdem ich das Goffman-Buch gelesen hatte, war ich ja wirklich wie erleuchtet, ja, muss ich schon sagen. Ich habe mich also an Peter Gstettner gewandt und erzählt: Ich habe einen Zettel an das schwarze Brett am Institut gehängt »Behinderung ist eine soziale Relation«, oder so irgendwie, ich will ein Projekt machen. Es hat sich niemand gemeldet innerhalb von einem Monat. Niemand. Gstettner antwortete, naja wieso machst du so etwas Ungeschicktes, komm zu mir in die Lehrveranstaltung, ist ja klar, auf einen Zettel am schwarzen Brett will sich niemand melden. Also bin ich in die Vorlesung zu Aktionsforschung und habe dort erzählt, ich würde gern ein Projekt beginnen und das mithilfe von Aktionsforschung durchführen.

Bildungs- und Aktionsprojekt von Ernst Klee und Gusti Steiner

Es gab damals schon, mir über Ernst Klee bekannt, das Vorbild der Menschenrechtskämpfe in Kalifornien, in Deutschland über den Frankfurter Volkshochschulkurs »Bewältigung der Umwelt«, das war mir von einer Dokumentation ein klein wenig bekannt. Von diesen historischen Geschichten weißt du, oder? Ernst Klee hatte in Amerika, er war ja evangelischer Theologe und Sozialpädagoge, hatte bei einem Studienaufenthalt in den USA den Beginn der Selbstbestimmt Leben Bewegung in den USA mitbekommen und deren aktionistischen Methoden. Er hat zurück in Deutschland in Frankfurt zusammen mit Gusti Steiner, einem behinderten Aktivisten, an einem Bildungs- und Aktionsprojekt gearbeitet. Von Klee und Steiner findest du auch Texte in der digitalen Bibliothek bidok.at51. Klee und Steiner begannen an der Volkshochschule Frankfurt mit einem Kurs zu »Bewältigung der Umwelt« und begannen die ersten Analyseschritte zur Situation von behinderten Menschen, mit der Frage was gegen Ausschluss und Diskriminierung getan werden kann. Dies hatte durchaus Ähnlichkeiten mit Aktionsforschung. Die Gruppe hat Demonstrationen organisiert, aktionistische Demonstrationen, Straßenbahnen blockiert und einiges, auch provokante und lustige, erheiternde Geschichten, die kannst du in dem Buch »Behindert« von Ernst Klee nachlesen, das ist von 1980, und du findest es auf bidok.at.

Projekt: Aufteilung in Integration von Kindern und von Erwachsenen

Das aktionistisch-analytische und das aktionistische Handeln in der Öffentlichkeit, das hat mich sehr beeindruckt. Da habe ich mir gedacht, so müssen wir auch in Innsbruck irgendwie vorgehen, dazu brauche ich aber eine Gruppe. Meine Vorstellung in der Lehrveranstaltung von Peter Gstettner zu Aktionsforschung führte dazu, dass sich 40 Studierende zum Mitmachen gemeldet haben. Da habe ich gedacht, hm, was mache ich jetzt mit 40 StudentInnen, mit so vielen nichtbehinderten Studierenden. In einer Plenumssitzung für die Interessierten haben Peter Gstettner und ich uns dann geteilt. Eine Gruppe hat gesagt, wir wollen Integration von Kindern behandeln und die andere Gruppe, die Integration von erwachsenen behinderten Personen, nach dem Vorbild des Frankfurter Hochschulkurses. Die beiden Gruppen haben sich getrennt und aus der »Kindergruppe« ist dann der erste integrative Kindergarten Österreichs entstanden und aus der anderen Gruppe ist diese Initiativgruppe entstanden »Initiativgruppe Behinderter und Nichtbehinderter« und da findest du auch in der bidok.at mehrere Texte dazu, wie wir vorgegangen sind, was wir gemacht haben52. Du findest auch auf YouTube einen Film, den wir 1978/79 gedreht haben, in dem wir in Rollenspielen alltägliche Erlebnisse aufgearbeitet und sehr zynisch präsentiert haben. Sehr provokant und sehr zynisch. Den Film kannst du anschauen53. Aus dieser Erfahrung heraus, war ich im Thema Behinderung schon sehr drinnen.

Warst du in beiden Gruppen?

Nein, ich habe die »Kindergartengruppe« dem Peter Gstettner überlassen, es war einfach alles zu viel. Ich musste ja studieren auch noch. Ich habe dann ewig lange studiert und 1980 abgeschlossen, aber diese Initiativgruppe weiter betrieben und auch an den ersten bundesweiten Treffen mitgewirkt, damit eine überregionale Vernetzung in Gang kommt, das war Basispolitik, würde ich mal so sagen. Zur Geschichte der »Selbstbestimmt Leben Bewegung in Österreich« findest du auch auf bidok.at ein Archiv, Interviews und jede Menge Dokumente54.

Werdegang: Der Weg in die Universität

Dann ist Peter Gstettner nach Klagenfurt berufen worden und es war damit eine Stelle frei am Institut für Psychologie. Ich habe mir gesagt, ich bewerbe mich. Ich hatte die Unterstützung von mehreren AssistentInnen und der Studienrichtungsvertretung; die Institutsleitung und die Mehrheit des Instituts war völlig entsetzt, ja. Sie hatten die Befürchtung, dass ich diese Stelle aufgrund meiner Behinderung »ad personam« bekomme, also als behinderte Person bevorzugt werde. Das Institut hat verzweifelt in Österreich einen angepassteren, sagen wir mal, Behinderten gesucht, den sie statt mir dem Ministerium vorschlagen könnten. Es wurde keiner gefunden und als Reaktion darauf die Stelle erst gar nicht ausgeschrieben. Über Intervention konnte ich im Ministerium in Wien ein Gespräch führen und habe dort berichtet, da ist eine Stelle frei und ich will mich bewerben und das Institut schreibt die Stelle nicht aus. Die Ministerialbeamtin sagte mir, sie wüsste seit dem Jahr der Behinderten 1981, dass man behinderte Menschen bevorzugt einstellen sollte. Sie würde eine Anstellung von mir befürworten, wenn ich entsprechend qualifiziert bin. Wenn das Institut für Psychologie mich nicht will, vielleicht gibt es ein anderes Institut. Mit dieser Information bin ich an das Institut für Erziehungswissenschaft gezogen zum damaligen Leiter Prof. Hierdeis und habe diese Geschichte erzählt. Der sagte, ach interessant, ich nehme Sie; er hat zum Telefon gegriffen, im Ministerium angerufen, zehn Tage später war ich angestellt, über alle beschlussfassenden Gremien hinweg, ohne jemanden zu fragen, ohne irgendetwas, ganz direkt interventionistisch, eine Ausnahme, von der gesagt wurde, so etwas dürfe eigentlich nie passieren. So bin ich hineingerutscht. Wenn es den formellen Ausschreibungs-Weg gegangen wäre, hätte ich den Job vermutlich nie bekommen. Auch hier war wieder so ein aktionistisches Element und meine Sicherheit, dass ich ein Recht gegen Diskriminierungen habe. Selten genug, dass so etwas im emanzipatorischen Sinne wirksam werden kann, das war damals schon etwas Besonderes. Das ist mir klar. So wie in der Schule, wie ich überhaupt in die Schule gekommen bin, und wie ich an die Universität gekommen bin, das ist eigentlich kein gerader Weg gewesen, eigentlich immer ein aktionistischer und politischer in irgendeiner Form. Regulär hätte ich nie da oder dort irgendeine Chance gehabt. Diese Erfahrung prägt mein politisches Verständnis, ob das jetzt Schulintegration oder irgendwas anderes ist – ich sag noch immer Integration – ja, diese Erfahrung prägt mein Wissen, dass die Uni ja auch nur eine große Institution ist, in der ich Geld verdiene, arbeiten kann, Ideen verbreiten kann, was unglaubliche Chancen birgt, aber auch nur eine Institution ist, mit den bekannten Dynamiken.

Disability Studies

Ich bin zutiefst überzeugt, dass die Betroffenen selbst aktiv werden müssen, und dann ist die Frage, wer sind da die Betroffenen. Die Eltern als Mitbetroffene, natürlich zum Teil ja, aber wo sind die Betroffenen, und dann bin ich schon wieder mitten im Thema, insofern, dass die Betroffenen, die so weit kommen wie ich, nämlich an die Universität, meistens unter schlechten Bedingungen in regulären Schulen wilde Integration erlebt haben, und was machen die daraus. Daran hängt teilweise die Entwicklung der Disability Studies. Die Disability Studies, die theoretisch unglaublich fruchtbar sind und mit denen ich mich mit Vergnügen und mit größtem Eifer auseinandersetze, aber es gibt auch einen merkwürdigen Bruch oder Vorbehalte zwischen Disability Studies und diesen gesellschaftlichen Politiken in Richtung Inklusion, jetzt nehme ich mal dieses Wort. Da gibt es ja »gute« und »schlechte« Gründe. Was ist da die Schwierigkeit in der Tradition der IntegrationsforscherInnen, und was ist die Schwierigkeit im Bereich der ForscherInnen in den Disability Studies. Was lernen wir von da und dort und wohin geht das, ja, das wäre so ungefähr mein Thema.

Das finde ich ganz spannend, also genau diese Frage von Bezügen zu anderen Teildisziplinen der Pädagogik einerseits, also auch Frauenforschung und migrationsbezogene Pädagogik und dann aber auch Gender und Disability Studies, wie man mit denen zusammenarbeitet oder eben nicht zusammenarbeitet und wo es Bezüge gibt und welche Probleme auch darin bestehen?

Keine Entwicklung ohne Widersprüche

Also bei Intersektionalität ist die Frage, was ist da das interessante, was ist das Vorwärts bringende und wo gibt es ein Problem. Da ist es notwendig gut zu unterscheiden; also ich gehe grundsätzlich von Ambivalenzverhältnissen und Widersprüchen aus. Und es ist kaum irgendeine Entwicklung denkbar, die ohne Widersprüche existiert. Alle Vorstellungen, jetzt hätten wir mit den Disability Studies eine gültige Metakategorie gewonnen, die wir deduktiv einsetzen können und eigentlich alles erklären und alle Praxen steuern, dies ist wohl grundsätzlich falsch für mich. Genau das gleiche gilt für die integrative oder dann inklusive Pädagogik, wir glauben wir haben jetzt die Meta-Zugangsweise mit der wir alles erklären können und alle Praxen beschreiben und umsetzen können, auch dies ist falsch. Es ist aus meiner Sicht nötig um das Fundament zu ringen und zu fragen, von welchen allgemeinsten Zugängen gehen wir eigentlich aus, in welche Tiefen gerät man dort, von Strukturalismus, oder Poststrukturalismus oder Konstruktivismus oder Anti-Konstruktivismus oder was auch immer man da jetzt nimmt; oder wo ist es wichtig sehr induktiv von sehr realen Phänomen auszugehen, und leitet aus diesen Phänomen dann auch Theorieentwicklungs- und Handlungsnotwendigkeiten ab. Ich kann beiden Zugängen etwas abgewinnen und wehe man setzt nur auf das eine oder nur auf das andere.

Und bei den theoretischen Grundlagen aus den Arbeiten der letzten Jahrzehnte was würdest du da sagen, erscheint dir besonders wichtig, gibt es da irgendwas wo du sagst, dass wäre dein eigener Hauptzugang oder dein eigener Schwerpunkt?

Kooperation als Forschungsthema

Ich bin lange unter anderem auch mit Georg Feuser verbunden gewesen in irgendeiner Form, ja, ohne deswegen gleich ein bevorzugter Anhänger der kulturhistorischen Schule zu sein. Aber diese Form von kritischer Systemtheorie, die er vertreten hat, hat mich eigentlich immer sehr fasziniert. Und Kern dieser Systemtheorie, die er formuliert, ist ja, immer in Richtung Kooperationsprozesse zu gehen. Und Kooperation ist nicht nur eine schulpraktische Frage, sondern ist eine zentrale Frage von jeglicher Form von Evolution, von jeder Art von Entwicklung und Kooperation ist auch verbunden mit der Frage, wie funktioniert Geschichte überhaupt. Also wenn wir jetzt zum Beispiel Foucault hernehmen und seine Diskursvorstellung, wie funktioniert Geschichte durch Steuerung des Diskurs oder wie werden Diskurse gesteuert und wie steuern Diskurse Geschichte, wo Foucault davon ausgeht, dass das kontingent ist, das heißt, nicht wirklich steuerbar, relativ zufällig oder so. Was ist dann eigentlich die theoretische Grundlage dessen, wenn man das so sagt, was Entwicklung ist, dann ist es nicht nur einfach die Struktur die existiert, die Sprache, das Militär, die Schule, der Staat, durch Mächtige gesteuert, sondern dann gibt es Diskurse, die letzten Endes gesellschaftliche Gruppen und Einzelpersonen in Kooperationen mit der Gesellschaft entwickeln. Und so entsteht auch und so steuert sich gesellschaftliche Dynamik. Also Kooperation ist ein ganz zentraler Begriff, das zeigt sich auch, wenn wir jetzt die neueren Theorien der Epigenetik hernehmen und zurückgehen, Darwin neu lesen, wie es Philipp Sarasin zum Beispiel gemacht hat – da gibt es ein schönes Buch über Darwin und Foucault von Philipp Sarasin55 – dann verweist der Zusammenhang auch hier auf die evolutionäre Basis von Kooperationsprozessen, bis in die genetische Dynamik der Evolution hinein. Also Kooperation ist aus meiner Sicht, eines der basalsten Entwicklungsprinzipien überhaupt. Nicht das Individuum. Zum Beispiel, wenn gesagt wird, Empowerment oder Förderung und Stärkung, auf eine Person bezogen ist zentral. Empowerment ist super, ist aber sehr individualisierend meritokratisch meistens gemeint in Richtung einer Person oder eine Gruppe, was schon auch recht ist. Aber systemisch kooperativ ist noch ein anderer Ansatz. Wenn etwas allen Kindern in einer Klasse nützen soll, stehen die Kooperationsprozesse im Mittelpunkt und die klassische Definition von Georg Feuser ist Kooperation am gemeinsamen Gegenstand. Der gemeinsame Gegenstand symbolisiert den Rahmen, die Struktur. Wenn dieses Konzept auf wissenden LehrerInnen aufbaut, gibt es auch dabei ein Problem, weil die LehrerInnen wissen halt dann wieder was die Kinder kooperativ erforschen sollen, also die Dynamik zwischen den wissenden LehrerInnen, die die Erkenntnis der Kinder steuern über den Gegenstand oder wo entdecken die Kinder wirklich eigenständig, und was hat Bedeutung auf dem Hintergrund ihrer sozialen Lage. Da gibt es schon große Spannungsfelder. Und was heißt das für die Alltagsdidaktik, die Alltagsdidaktik ist sowieso geerdeter, sagen wir mal so. Aber auf der Theorieebene ist für mich Kooperation und nicht Selektion und Teilung und nicht Individualisierung der entscheidende Zugang. In diesem Zugang ist das Intersektionelle sowieso mit drinnen, weil klarer Weise in der Kooperation alle Kinder im Rahmen ihrer Möglichkeiten handeln, das beinhaltet Gender, Migration und Behinderung und so weiter. In Kooperation handeln alle Kinder aus ihrer eigenen Perspektive, dann sind die Vielfalt und der soziale Hintergrund von vornherein da. Das Konzept der Intersektionalität ist in diesem Sinne schon eine Reduktion. Intersektionalität ist de facto auch in der Realität ein dreigliedriges und meist irgendwie hierarchisches System ja, und da ist zum Beispiel die alte »Klassen«-Geschichte, die soziale Ungleichheit, auch wenn sie immer genannt wird, meist real nicht drinnen.

Na gut, das ist ja die Frage was bezieht man mit ein, welche Differenzlinien?

Intersektionalität und Institutionalisierung

Intersektionalität kann ausdehnt werden, aber in der real verfassten Universität meint Intersektionalität Migrationsforschung und Genderforschung, aktuell oftmals stark geprägt von Queer, ohne die Klassenfrage wirklich zu stellen. Und es gibt – eher am Rande – Behinderungsforschung im Sinne von Disability Studies, das ist die Praxis von Intersektionalität. Und damit ist dieser Ansatz institutionalisiert und verbunden mit bestimmten profilierenden Karrieren und so weiter, und schon ist man in dieser Institutionalisierungsdynamik, die man Universität, Wissenschaft und Lehre nennt, die aber mit den tatsächlichen Gegenständen, der gesellschaftlichen Praxis, immer wieder nur beschränkt etwas zu tun haben. Diese Eigendynamiken, die leben ja davon, dass sie sich verselbstständigen und sich vom Gegenstand – zum Beispiel von den Rechten von Frauen, von Personen mit Migrationshintergrund, von Menschen mit Behinderungen – abzulösen anfangen. Eine universitäre Karriere mit ihren Zwängen ist noch etwas anderes als einem Gegenstand zu folgen. Da gibt es große Überschneidungen hoffentlich, aber es gibt vielfach auch wenige Überschneidungen.

Ganzheitlichkeit des gemeinsamen Gegenstandes

Die InklusionsforscherInnen sind ja in der gleichen Problematik drinnen. Ich sehe ein mögliches zentrales Fundament in Kooperation und gemeinsamen Gegenstand, und was kann der anderes sein als etwas vollständig Ganzheitliches. Der Gegenstand ist nicht nur ein Objekt, sondern dieser Gegenstand ist ein ganzheitliches Ding und alle Zuschreibungsprozesse, Bedeutungsbildungsprozesse zur Erfassung dieses Gegenstandes sind immer auch mit Fragen nach Kultur, nach Gesellschaft, immer nach Verteilung in der Gesellschaft, immer nach Politik, nach den Fundamenten der Erkenntnis verbunden. Immer auch mit der Frage nach den Fundamenten der Wahrnehmung, auch des eigenen biografischen Hintergrunds, psychischen Hintergrunds der Wahrnehmung. Konstruktion lebt von der Projektion eigener Geschichte in den Gegenstand hinein, also auch von Biografie. Das ist im Gegenstand immer mit drinnen. Also der Gegenstand ist ein ganz Ganzheitliches und ich denke inklusive Pädagogik müsste sich dessen klar sein, dass dieser Gegenstand etwas Ganzheitliches ist, so wie die Kinder und die Erwachsenen, die sich an diesen Gegenstand heranwagen und Erkenntnisprozesse einleiten gemeinsam Erkenntnis entwickeln – eigentätige Entwicklung von Erkenntnis und nicht nur Lernen im Sinne des alten Belehrtwerdens.

Schule als Ort forschenden Lernens

Also wenn Bildung so verstanden wird, dann ist diese Trennung inklusive Pädagogik, die Disability Studies, Naturwissenschaften, Kulturwissenschaften, Ökonomie, Politik ein Nonsens, ja, weil es ist von vornherein auf dem Möglichkeitsniveau der LehrerInnen und der Kinder ein Herantasten an den Gegenstand und an diese Analyse; Kinder forschen, in dem Sinne wie zum Beispiel die altbekannte Freinetpädagogik und die Pädagogik von Paolo Freire Zugang zu Welt ermöglichen. Schule heißt die Welt erforschen und nicht Kinder zu belehren und in dem Zusammenhang braucht es einen Rahmen der sicher genug ist, dass das auch gehen kann.

Dialektik zwischen Individuum und Struktur

Weil inklusive Pädagogik neigt dazu die Kinder zu individualisieren, alle Kinder sind anders und damit werden die Kinder wieder aus ihren Gruppenzusammenhängen, behindert, Migration, Gender, soziale Ungleichheit herausgelöst, sondern alle Kinder sind anders und diese Herauslösung aus ihrer Ursprungs- sozialen Status- oder Zuschreibungskategorie und in der Individualisierung verlieren sie aber auch teilweise ihre Identität. Das muss man nicht beklagen, aber wer übernimmt nachher diesen Rahmen, der für Entwicklung notwendig ist. Und da ist die Klasse als institutionelle verfasste identitätsbildende Struktur auch bildende Struktur, diejenige die den Rahmen herstellen muss, damit die Kinder auch Kinder als eigene sein können. Sie können nicht im Sinne von individuellen Empowerment oder mit Inklusion, alle sind verschieden und alle folgen ihren Interessen, ausreichend gebildet werden. Dort ist der Verlust von Identität die Gefahr oder eine Art Mainstreaming die Folge, die letzten Endes in einer Art neoliberalen Vereinzelung mündet, wo die Gefahr dann ist, wieder zurückzufallen in ganz archaische binäre Systeme, wie behindert-nichtbehindert, Mann-Frau, Ausländer-Inländer, Fremd-Einheimisch, wie auch immer. Also das ist auch die Auffassung von Jürgen Link56, den kennst du wahrscheinlich, die Normalismustheorie von ihm, der den flexiblen Normalismus ja einerseits sehr interessant beschreibt, aber selbst davor warnt zu glauben, dass der flexible Normalismus ein Fortschritt ist. Und so wie viele die Inklusionsidee verstehen, alle Kinder sind anders, ist ganz richtig, aber man muss davor warnen zu glauben, das ist jetzt des Rätsels Lösung. Ich finde, die Dialektik zwischen Individuum und Struktur ist entsprechend zu beachten, um halbwegs den richtigen Weg zu gehen. So lange ich nur von den Kindern ausgehe, ja, und die Struktur sekundär sehe lande ich in der Individualförderung und nicht in dem was der gemeinsame Boden der alten Integrationsdiskussion und der neuen Inklusionsdiskussion nach ist.

Begriffsentwicklung

Insofern bin ich ganz skeptisch gegenüber dieser ganzen neuen Debatte Inte­gration wird durch Inklusion abgelöst und so, es ist zum großen Teil ein Scheingefecht. Man muss ganz real sagen, es hat sich so entwickelt, okay gut, dann reden wir halt von Inklusion nicht mehr von Integration, soll so sein, aber wenn man die Fundamente anschaut, woher Integration kommt, wenn jetzt Georg Feuser, Jutta Schöler, Ulf Preuss-Lausitz und all die du selber erst aufgezählt hast hernimmst, dann ist es ja absurd zu meinen, es braucht einen Inklusionsbegriff. Andreas Hinz hat durchaus aus guter Motivation diese Differenzierung sehr befördert und sie ist als Instrument auch wahrscheinlich sinnvoll, aber man darf nicht kritiklos damit umgehen. Integration wird inzwischen verwendet für alles, auch für schreckliche sonderpädagogische Geschichten. Jetzt sind wir im gleichen Prozess mit der Inklusion drinnen, es gibt eine Etikettenänderung im großen Stile und wir stehen wieder dort, wo wir vorher schon waren. Begriffsentwicklungen aus gutem Grund dürfen nicht von der Frage nach der Basis der Argumentation ablenken.

Ich sehe es halt so ein bisschen problematisch mit der UN-Konvention, weil ich den Eindruck habe, dass wir dadurch wieder in der Inklusionsbegrifflichkeit nur auf die Behinderungsdimension zurückgeführt sind und selbst da dieses nichtbehindert, behindert immer noch bestehen bleibt und wir sozusagen den Schritt irgendwie zurückgegangen sind zu einem klassischen Integrationsmodell, wir integrieren die Behinderten und nennen es aber jetzt Inklusion und …?

Gefahren der De-Kategorisierung

Je nachdem was wir jetzt Inklusion nennen, ich glaube den sozialen Bezug und den Rahmen zu nennen hat durchaus was Richtiges an sich. Ich glaube, eine ausgeweitete intersektionelle Auflösung von Zuschreibungskategorien birgt die Gefahr von Identitätsverlust in sich. Jenseits von sonderpädagogischen Kategorien der Zuschreibung von Behinderung, hat eine Formulierung, die meine Wahrnehmung in einer Gruppe beschreibt, durchaus Sinn.

Die Frage ist aber, wer formuliert …

Behinderungsbegriff

Ja, das ist entscheidend. Wenn es die sonderpädagogischen oder medizinischen Experten sind, dann vergiss es. Aber die UN-Konvention lese ich nicht so, dass sie es befürwortet, dass die SonderpädagogInnen/ÄrztInnen Behinderung definieren sollen, die UN-Konvention geht von einer sozialen Relation aus und von einem nichtfertigen Begriff von Behinderung. Ein offenes, dynamisches Konzept ist da beinhaltet und dieses bevorzugt die Definitionsmacht der Betroffenen selbst sehr stark. Im Sinne eines prozessorientierten Rahmens ist mir die Konvention sehr viel wert.

Flexibler Normalismus

Wer auch immer daraus noch was macht, das ist noch etwas anderes. Wie wird die Konvention im Gebrauch verändert, von wem. Aber der Zugang der Konvention, Rechte zu formulieren ist grundsätzlich der richtige Zugang. Die Auflösung der Kategorien Behinderung, also diese de-konstruktivistische, poststrukturalistisch de-konstruktivistische Auflösung von Gender, Auflösung von Kategorien der Fremdheit, welche auch immer, Auflösung der Kategorie von Behinderung führt unter den derzeitigen gesellschaftlichen Umständen schnurstracks in Individualisierung, die die sozialen Gruppenzugehörigkeiten und damit auch die Identitäten der Personen verloren gehen lässt. Damit sind wir da, was Link beschreibt, die Gefahr dieser zunehmenden Flexibilität, des flexiblen Normalismus, die letzten Endes in postmoderne Verlorenheit führt, mündet unter Umständen in Angst und neuen binären Abgrenzungskategorien, wie fremd und einheimisch, zu – für eine Politik der Gefühle nutzbaren – Rückfällen.

Identitätsentwicklung

Wenn wir die Frage der Identität hernehmen, das würde ich auch sehr betonen, dann hat diese einen Außenaspekt und einen Innenaspekt und einen Gruppenaspekt in dessen Rahmen sich die Person entwickelt in Kooperation, in Auseinandersetzung mit anderen Kindern und Erwachsenen. Dies zu beachten ist der richtige Zugang zu Schule und zur Didaktik und auch zur Inklusion. Es geht immer um diese Aushandlungsprozesse und da ist der Identitätsbegriff von Markowetz hilfreich zum Beispiel57.

Dynamiken
in der Schule

Und für den Zugang zur Inklusion in der Schulklasse und den Prozessen der Auseinandersetzungen in den Klassen ist die Unterscheidung zwischen Inklusion oder Integration gar nicht hilfreich, auch nicht die Unterscheidung von Disability Studies oder integrativer Pädagogik, das ist dann real einfach egal. Es ist wichtig von den sozialen und kulturellen und institutionellen Dynamiken auszugehen, die in der Klasse präsent sind. Und wie kann didaktisch darauf Rücksicht genommen werden. Und es geht um die Dynamik des Rahmens der Schule mit all ihren ökonomisch und standespolitisch gesteuerten und Stellen- und Ausbildungs- und sonstigen Dynamiken, sowie die Dynamik der Kinder und der Eltern in Beziehung zur psychischen und sozialen Dynamik der LehrerInnen, die hier eine Vermittlungsinstanz sind.

Verloren sein durch Individualisierungsprozesse

Ja, und dann geht es um die Entwicklung der Kinder ganz gleichgültig, welchen Hintergrund sie haben, welchen Zuschreibungen sie unterliegen, ohne dass deren Herkunft und Identität vernachlässigt oder eliminiert werden muss. Wenn ein Kind mit Migrationshintergrund in der Schulklasse ist, geht es um sehr unterschiedliche Formen der Anerkennung von Kultur und Sprache, wenn ein behindertes Kind Unterstützungsbedarf hat, dann hat es diesen in sehr unterschiedlicher Weise. Es braucht Assistenz, es braucht Unterstützung und wenn Gender im Mittelpunkt steht, dann heißt dies nicht, dass der Unterschied zwischen Mann und Frau eliminiert wird, sondern dass er eine andere Wertigkeit bekommt – all das sehr real. Also de-konstruktivistische Auflösungen von Zuschreibungskategorien führen, wenn ich es plump sage, in neoliberale Individualisierungsprozesse und in ein verloren sein, das ganz anderen Herrschaftsinteressen entspricht als es Inklusion entspricht.

Reformen in Italien

Also ich glaube Miguel Melero beschreibt die Situation relativ gut58. Er beschreibt die Situation und die Dilemmas eigentlich ganz schön, dem fühle ich mich relativ nahe. Melero spricht davon, dass die Integration oder Inklusion, wie auch immer, ein sehr reales Anliegen von Anerkennung ist und dass diese Vorstellungen darüber Gesellschaftsveränderungen machen zu können, wacklig ist. Dies betrifft diesen Impetus, mit dem wir alle angetreten sind, wir machen Gesellschaftsveränderung und dies letztlich von den italienischen Reformen abgeleitet zu denken. In den 1960er, 1970er Jahren waren in Italien die linken und kommunistischen Reformer ja durchaus von der Idee geprägt, auch über Bildungsreformen Gesellschaftsveränderungen zu erreichen. Unter diesem Aspekt waren damals die Kommunisten einen historischen Kompromiss mit den Christdemokraten eingegangen. Diese politische Konstellation führte in den 1960er, 1970er Jahren sowohl zur Abschaffung der großen stationären Psychiatrie, als auch zur Abschaffung der Sonderschule. Gesundheitsreform und Bildungsreform wurden betrieben, weil schon klar war, der Kapitalismus lässt sich nicht so ohne weiteres überwinden, über revolutionäre gewerkschaftliche Arbeit in den Betrieben. Die Idee auch der Kommunisten war, dass über Gesundheitsreform, institutionalisierte Reform und Bildungsreform eine langfristige Gesellschaftsänderung erreicht werden kann. Wir alle haben im deutschsprachigem Raum von dieser italienischen Erfahrung in den 1970er Jahren, der Änderung der Schule ja sehr gezehrt, Jutta Schöler hat massiv Wissen über die italienische Reformpraxis in den deutschsprachigen Raum gebracht. Aber kaum jemand von uns hat sich wirklich gefragt, wie ist es in Italien eigentlich zu den Reformen gekommen. Jutta Schöler deutet es ja auch immer nur sehr kurz an. Eine bestimmte Rolle hat Milani Comparetti in Florenz damals gespielt. Er war kommunistennah und im Zweiten Weltkrieg Widerstandskämpfer. Sein Bruder, Don Lorenzo Milani, der die Scoula Barbiana gegründet hat59, also auch der hat die italienische Schulreform beeinflusst. Adriano und der Don Lorenzo, die waren schon sehr wichtige Reformer in Italien, aber der politische Hintergrund – den sie beide nicht nennen – war der historische Kompromiss zwischen Kommunisten und Christdemokraten. Und der Ideologe dieses Kompromisses war letztens Antonio Gramsci, würde ich mal behaupten. Es besteht die Frage, woher kommt bei uns diese Idee der Integration eigentlich historisch. Diese Wurzeln befragt kaum jemand und es kommt auch niemand auf die Idee revolutionäre Entwicklungen über Bildungsreform zu machen. Es ist evident, dass wir uns hier lineare Fortschritts-Zusammenhänge abschminken müssen. Auch die Gesamtschuldebatte ist ja keine kommunistische, sondern eher noch die der Interessensvertretung der Wirtschaft, ja, also der Wirtschaftskammern, die vertreten diese bei uns noch eher. Also wer in Österreich die Gesamtschule vertritt, das sind vordergründig die Sozialdemokraten, klar, aber inzwischen mehr die Wirtschaftskammer, die Industriellenvereinigung, die Wirtschaftskammer in Kooperation mit Teilen der Sozialdemokraten unter erbittertem Widerstand der Christdemokraten, die klassisches Bürgertum und die StandesvertreterInnen aus dem Bildungsbereich im Rücken haben.

Vor dem Hintergrund das Humankapital der jetzigen HauptschülerInnen besser zu nutzen?

Inklusion als Wirtschaftsinteresse

Integration ist einfach bessere Gesamtschule, ist bessere Entwicklung des Humankapitals, das die Wirtschaft benötig. Für die neoliberale Wirtschaft ist die Sonderschule und dieses ständische Teilen der Kinder nach ihren Herkünften etwas was sie nicht brauchen kann. Sie braucht eine Einheitlichkeit der Ausbeutung des Humankapitals und der Bildung des Humankapitals unabhängig von ihrer Herkunft und unabhängig von ihren Zuschreibungen, ob Frau und Mann oder behindert und nichtbehindert oder Ausländer und Inländer, das ist ihr eigentlich egal, ja lästig. Insofern gibt es auch ein emanzipatorisches Element in diesen Wirtschaftsinteressen, in diesen neoliberalen Wirtschaftsinteressen. Und es bleibt trotzdem noch neoliberales kapitalistisches Verwertungsinteresse und damals war in Italien ein Versuch, einen Kompromiss zu finden. Die Natur dieses Kompromisses in den 1960er Jahren in Italien ist der Hintergrund der ganzen Integrationsentwicklung auch im deutschsprachigen Raum, würde ich mal behaupten.

Italien

Über Jutta Schöler und Otto Roser ist das Wissen über die italienische Integrationspraxis in den deutschsprachigen Raum eingesickert, ja, auch Roser war Anhänger der italienischen Kommunisten. Die italienischen Reformkommunisten waren damals so etwas wie weltoffene Sozialisten, kann man schon mal sagen, die haben mit dem stalinistischen Denken nicht mehr viel zu tun gehabt, die haben sich vom Stalinismus abgegrenzt und dementsprechende historische Konflikte durchgefochten. Diese Tendenz ist der Hintergrund unserer Integrationsforderung.

Gesellschaftsveränderung über Schule

Und Melero dem das alles vermutlich bekannt ist, der hat in den 1980er Jahren in Spanien erstmals Integration von Kindern mit Down-Syndrom konsequent umgesetzt. Pablo Pineda ist Produkt dieser Integration zum Beispiel. Melero argumentiert intersektionell an Anerkennung orientiert, Inklusion ist keine sozial-reformerische Angelegenheit sondern eine Praxis, die Kinder anerkennt, in ihrer Entwicklung nützt und deswegen unbedingt gemacht werden muss. Aber zu glauben, darüber Gesellschaftsänderungen machen zu können ist eher eine Illusion. So verstehe ich ihn. Und in diesem Spannungsfeld bewegen wir uns heute auch noch. Einerseits wird aus ständischen Interessen die Integration, Inklusion völlig abgelehnt – die Eigendynamik eines differenzierenden Schulsystems, dass sich auf Teufel komm raus wehrt, sich ja nicht verändern zu müssen und die Vorstellung Gesellschaft ist ständisch gegliedert und wir bilden das ab, die muss auch bleiben, legitimiert über individuelle Leistung, meritokratische Grundsätze. Ein überkommendes Konzept aus dem 19./20. Jahrhundert, wenn nicht noch älter. Auf der anderen Seite ist die Auflösung dieses Ständischen im Sinne fortgeschrittener, modernisierter, neoliberaler und kapitalistischer Interessen. Und unsere Emanzipationsgeschichten im Sinne von Entwicklung von Sozialisation als Vergesellschaftung, als Aneignung von Gesellschaft emanzipatorisch und handlungsfähig zu werden, mit Integration-Inklusion, beinhaltet aber keine Garantien für entsprechende Entwicklungen. Wir wissen aus der Empirie, dass Inklusion Kindern eindeutig für ihre Entwicklung nützt, aber ob das nicht auch ein affirmatives Mainstreaming beinhaltet, das sind Fragen, für die Disability Studies gut geeignet sein könnten. Könnten. Ob wir tatsächlich so etwas wie emanzipatorische Arbeit mit Inklusion machen, da bleibt ein großes Fragezeichen. Ob unser sozialreformerischer Gramsci-artiger Impetus noch vorhanden ist, oder ob der nicht sowieso schon nur ein historisches Relikt ist, von dem wir immer noch etwas zehren, ohne es zu wissen, das ist die Frage, wem wir noch anhängen ohne es zu wissen, aber eigentlich sind wir schon ganz wo anders in Richtung Mainstreaming unterwegs.

Differenzierung
in Kooperation

Übrig bleibt, dass Inklusion sicher Kindern und deren Handlungsfähigkeiten nützt, sofern sie in einem gesicherten Rahmen erfolgt in Kooperation mit der Vielfalt anderer Kinder. Alle Differenzierungen, die Kooperation behindern, sind weniger geeignet Entwicklung zu initiieren, ob es dann kapitalistisches Interesse ist oder sozialreformerisches Interesse ist, Inklusion zu betreiben, das muss grundsätzlich offen bleiben. Wir in unserem pädagogischen Impetus können nicht anders, als Kindern helfen, ihren Entwicklungsweg zu gehen und sie auch zu autonomen und handlungsfähigen Personen werden zu lassen und ihnen zu helfen, Deutungsfähigkeit in der Gesellschaft zu entwickeln, das Verstehen von naturbezogenen, aber auch gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen eigentätig zu erarbeiten. Dies erfordert Kooperation am gemeinsamen Gegenstand. Mit dem Spannungsfeld der wissenden LehrerInnen, der didaktisch-wissenden LehrerInnen und dem handlungsfähigen und sich eigentätig entwickelnden Kind, weiß ich nicht recht, wie wir damit wirklich umgehen sollen. Weil dieses Konzept bleibt unsicher und kann in die eine oder andere Richtung kippen, das ist die alte Geschichte zwischen autoritärer und laissez-fair-Pädagogik.

Demokratische Pädagogik

Die Frage ist, wo steht hier die klassische alte pädagogische Formulierung der demokratischen Pädagogik. In Grund genommen ist inklusive Pädagogik oder auch die integrative Pädagogik klassische demokratische Pädagogik, die Grundprinzipien sind eigentlich schon alle vor ewigen Zeiten formuliert worden und es differenziert sich jetzt nur durch unterschiedlichste Zugänge, Wissensstände, Theorien – wir könnten dadurch wissender und handlungsfähiger werden. Italien hat seit den 1970er Jahren die Integration – ist er deshalb jetzt ein sozial-revolutionärer Staat geworden? Natürlich nicht, aber wir sollten genau anschauen, was haben behinderte Menschen in Italien für Positionen erlangt durch Integration, Inklusion seit den 1970er Jahren. Das wäre auch mal interessant sich das genau anzusehen, was sind die Langzeitwirkungen von Integration/Inklusion, auch in Regionen Kanadas, in denen Inklusion schon länger verankert ist oder Skandinavien. Bei aller Ergebnisoffenheit – ich bin überzeugt, dass die Ergebnisse eher in Richtung demokratischer, humanerer Entwicklungen hintendieren, ohne irgendeine lineare Logik deswegen davon ableiten zu können. Inklusion als ein Attraktor in Richtung humanerer und demokratischer Verhaltensweisen und Kooperationsprozesse.

Was sich mir natürlich jetzt aufdrängt ist, wie kommen wir dann zu Gesell­schaftsveränderungen, wenn nicht über die Schule?

Auch über die Schule. Die nichtgebildeten Arbeiter im 19. Jahrhundert waren sozialrevolutionär unterwegs und haben sich intensiv gebildet. An Bildung alleine hängt es nicht, aber Bildung kann schon auch helfen. Ich bin überzeugt, inklusive Pädagogik ist verpflichtet, sich alle Theorien heranzuholen, genauso wie intersektionelles Denken heißt alle Differenzkategorien zu beachten bis in die Nähe des Verlierens von Differenzkategorien. So muss auch die inklusive Pädagogik alle Theorien heranziehen und an Kernproblemen arbeiten, eine etwas verbesserte Sonderpädagogik darf die inklusive Pädagogik nicht sein.

Und ich glaube da ist halt genau diese Schwierigkeit in der Kooperation dann mit den anderen Teildisziplinen der Pädagogik, die sich auch natürlich erstmal abgrenzen und sagen, wir machen hier unsere Migrationspädagogik, wir machen hier unsere Genderfragen und wie kommen wir dann zueinander und können eben Ausgrenzungen und Zuschreibungen aufgrund der einzelnen Heterogenitätsdimensionen irgendwie gemeinsam thematisieren.

Behinderung ist keine dominante Differenzkategorie

Der institutionelle Alltag der Unis ist der, dass immer wieder eine Differenzkategorie zur dominanten wird und die interessante Erfahrung ist die, dass die Kategorie behindert – nichtbehindert als Differenzkategorie eigentlich nirgendwo zur dominanten wird. Die Frage von Intersektionalität ist in unserer derzeitigen Tradition sicher immer zuerst einmal dominant, die Geschlechtsgeschichte dominant, jetzt aktuell zunehmend ersetzt durch die Migrationsfrage, ganz heftig im Moment. Aber wenn man sich ansieht, wie und wo Lehrkanzeln entstehen, welche Forschung finanziert wird, und wo es neue Staatssekretariate oder es Minister gibt, ja, dann ist sicher nicht viel für Behinderungsfragen dabei. In Österreich gab es einen Staatssekretär, der mit Migrationsfragen beschäftigt war (ohne der Frage nachzugehen, was aus dem geworden ist). Es gibt seit langer Zeit so seit 30 Jahren Frauenministerinnen und formulierte Frauenagenden, die Behindertenagenden sind …, ja wo?

Noch nicht da.

Politische Verankerung des Themas Behinderung in Österreich

Wo sind die Kompetenzen, im Grunde genommen in zehn Ministerien und in allen Ländern überall ein bisschen versteckt und verteilt, niemand koordiniert dies. Und die, die die Umsetzung der UN-Konvention jetzt etwas koordinieren, sind mittlere Beamte des Sozialministeriums ohne Durchsetzungskraft. Einen Behindertenbeauftragten oder eine Behindertenbeauftragte, der/die Bund-, Länderübergreifend ein/e AnsprechpartnerIn sein könnte, wie gut und schlecht auch immer, gibt es in Österreich nicht. In Deutschland gibt es zumindest eine Bundesbeauftragte, aber auch nicht als Staatssekretariat oder Ministerium. Wo sind in Deutschland die Migrationsfragen verankert? Gibt es da ein Staatssekretariat oder Ministerium? Sicher wie in Österreich sehr prominent – im Innenministerium angesiedelt?

Ich denke mal, es wird beim Innenministerium mit angesiedelt sein. Es ist auch nicht so prominent. Aber es wird sich in den nächsten 20, 30 Jahren auch massiv verändern müssen.

»Integration
durch Leistung«

Migration ist eindeutig im Aufwind, auch mit viel Politik der Gefühle bis Sündenbockproduktion. Und es gibt ein Kapitalinteresse, gebildete Ausländer hereinzuholen und zu verwerten und die Armen draußen zu lassen. »Integration durch Leistung« war der Leitspruch unseres Staatssekretärs und dann Ministers. Da gibt es ein massives Interesse, so wie die USA es historisch vorgemacht haben, wie sie auf Ellis Island die Leute selektiert haben, ob sie alt, behindert, krank sind, gebildet, ungebildet. Die einen hat man aufgenommen, die anderen hat man nach Hause geschickt. Das ist ein Ursprungs-Akt der USA, so ähnlich geht jetzt auch die Europäische Union im Grunde genommen mit dieser Migrationsfrage an. Wer darf aus der dritten Welt zu uns kommen und wer darf nicht kommen, das ist so ein dominierendes politisches Thema im Moment, das schüttet alles zu.

UN-Behindertenrechtskonvention

Im Vergleich dazu ist die Frage von Behinderung ein Randthema und so etwas von uninteressant, auch die UN-Behindertenrechtskonvention. Der wird irgendwie formell irgendwie Genüge getan, aber der wird politisch kein Potenzial zugesprochen, ein soziales Randproblem, das nach den Regeln von Sozialwirtschaft und in deren Entwicklungsinteresse reguliert wird.

Das müssen wir mitmachen.

Gesellschaftliche Funktionen von Behinderung

Das müssen wir halt irgendwie mitgestalten und versuchen so gut als möglich sekundär zu verwerten, zu schauen, wie verwenden wir diese Personengruppe als Symbolisierung von Leid, Gesellschaft und Tod und Elend und wie können wir dann noch besinnlich damit umgehen. Dies ist eine der traditionell gepflegten Funktionen von Behinderung; Österreich hat diese Charity-Strategie noch nicht überwunden. Ansonsten geht es um Reha und Mainstreaming. Du siehst, sehr optimistisch argumentiere ich nicht.

Wo siehst du denn für die nächsten Jahre die größten Herausforderungen so für das Feld inklusive/integrative Pädagogik?

Ständisch orientierte Gesellschaft

Die Sonderschulen abzuschaffen. Eine Methode zu finden, im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Interessen und gesellschaftlichen Entwicklungszusammenhängen und Identitätsbildungen Ausschluss zu beenden. Das ist sicher in einer immer weniger ständisch organisierten Gesellschaft möglich. Das Bildungssystem hat die alten ständischen Kulturen und ständischen Strukturen, die seit Jahrhunderten bei uns gepflegt worden sind, und die nach dem ersten Weltkrieg in neuer Form verfasst worden sind, weiter übernommen. Dieses ständische Denken, das nach dem Ersten Weltkrieg mithilfe der katholischen Soziallehre weitergeführt worden ist, sag ich mal, im Sinne der Subsidiarität, die Verantwortung in bestimmte Gruppen zurück zu geben, sowohl in der politischen Organisation als auch in den gesellschaftlichen Gruppen. Das ist ein Abklatsch des ständischen Systems und ist die Reaktion auf die sozial revolutionären Zustände nach dem Ersten Weltkrieg. Dieses ständische System, gründlich durchmixt mit Meritokratie und individualisierten Leistungsanforderungen, gehört abgeschafft und durch ein inklusives, auf Kooperation setzendes Unterrichten ersetzt. Klingt sehr utopisch, die Schulrealität ist ja die, dass durch die Existenz der Sonderschule und der Möglichkeit SchülerInnen los zu werden, vielfach nicht mal das Standardwissen über Binnendifferenzierung angewandt wird.

Abschaffung der Sonderschulen

Die einzige Lösung ist: keine Kinder mehr in Sonderschulen neu aufzunehmen und eine massive Kampagne schul- und klasseninterner LehrerInnenfortbildung. Stattdessen werden aktuell alle möglichen Scheindebatten geführt, ob die UN-BRK überhaupt die Abschaffung der Sonderschulen verlangt. Die dominante politische Position ist: Inklusion und Sonderschulen und Sonderklassen sind selbstverständlich vereinbar. Und dann sind wir schon mittendrin in dem Alltag der Bildungspolitik. Die Lösung kann nur sein: Abschaffen, so wie in Italien. Zwei Jahre Vorlaufzeit, dann wird die Sonderschule abgeschafft, in dem Sinne, kein Kind wird neu in die Sonderschule aufgenommen. Die Mehrheit der Kinder in den Sonderschulen wird bei uns ja nicht in der ersten Klasse eingeschult, sondern kommt im Laufe der Pflichtschule in den ersten acht, neun Jahren aus der Regelschule in die Sonderschule. Also die Kinder mit Lernschwierigkeiten werden im Schulalltag aussortiert, weil es die Allgemeine Sonderschule gibt und die Möglichkeit gibt. Bevor Schule sich ändert und die LehrerInnen Fortbildung in Anspruch nehmen, sendet man lieber diese Kinder weg. Über die Möglichkeit der Etikettierung kann man sie entweder in die Sonderschule schicken oder man bekommt zusätzlich Ressourcen für die Regelschule, LehrerInnenposten. Zu Zeiten des Rückgangs an SchülerInnenzahlen und der Abnahme von LehrerInnenplanposten, fragt sich das System ganz praktisch, wie behalte ich meine Lehrpersonen, den LehrerInnenstand aufrecht, wo haben wir ein paar Kinder, denen wir sonderpädagogischen Förderbedarf zuschreiben können, zum Zweck des Erhalts von LehrerInnenposten. Das ist ein rein systemischer Effekt mit wenig zu personalisierender Bösartigkeit oder Verantwortungslosigkeit. Es ist System-Interessenspolitik, die dazu führt, dass die Anzahl der Kinder mit der Zuschreibung sonderpädagogischen Bedarfs steigt und die Möglichkeit der Integration in Österreich hat dazu geführt, diesen Effekt zu bestärken. Du kannst dieses System nur kappen, indem du sagst, dass keine Kinder mehr neu aufgenommen werden in die Sonderschule, keine mehr von der Regelschule überwiesen werden und ab der ersten Klasse auch keine mehr neu aufgenommen werden. Das trifft dann auch Kinder deren Visibilität eindeutiger in Richtung Behinderung geht, weil sie körperbehindert sind, sinnesbehindert sind, »geistigbehindert« sind oder was auch immer. Es sind das ja in der ersten Klasse bei uns nur 0,8 oder 0,9% und alle anderen kommen im Laufe der Jahre dazu, sodass man zu diesem Wert von 2,4% SonderschülerInnen in Sonderschulen bei uns kommt und 5,2% von allen Kindern Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Das mag für Deutschland immer noch irgendwie ein bisschen toll klingen, aber in der Dynamik ist da überhaupt nichts toll.

Inklusive Schule als Ganztagsschule

Das ständische und meritokratisch individualisierende System stabilisiert sich selbst und weitet sich pseudo-marktmäßig aus. Integrationsgesetzgebung wird dazu benutzt. Das Integrationssystem ist flexibel, es ermöglicht einem kleinen Teil von Eltern, die sehr engagiert sind und offensichtlich ein hohes soziales Kapital haben, für ihre Kinder, auch wenn sie sehr schwer behindert sind, bessere Verhältnisse zu erreichen – auch da oft mit sehr viel Kampf und Durchhaltevermögen. Aber das ist dann eine Minderheit der Kinder, die integriert werden, der größte Teil der Platzierung der Kinder ist den genannten Systemeffekten geschuldet. Würde eine inklusive Schule mit Ganztagsschule und mit entsprechenden ganztägigen Unterstützungsformen kombiniert, dann wäre der Zug der Eltern in Richtung Sonderschule nicht mehr so groß, vor allem nicht, wenn sie einsteigen. Eltern wollen zu Schulbeginn nicht unbedingt die Sonderschule, das zeigt die Erfahrung. Diese Eltern sind ansprechbar für Inklusion, sofern ihr familiäres und soziales und lokales Umfeld entsprechend gestützt wird, dass Inklusion auch machbar ist und Familienentlastung schafft, dann sind die Eltern sehr offen.

Elternwahlrecht

Wenn die Kinder schon in der Sonderschule sind, dann gibt es oft massiven Elternwiderstand gegen Inklusion, dann kennen die Eltern die Ganztagsstrukturen der Sonderschule und fürchten den Verlust an Familienentlastung. Sie sind abhängig geworden vom Sondersystem. In der Realität wird unter Bewahrung der Systembedingungen rundum plötzlich gesagt, Elternrecht ist Menschenrecht. Plötzlich wird ein neues Menschenrecht kreiert, wie rundum ein neues Menschenrecht auf den eigenen Tod kreiert wird, zu Gunsten der aktiven Sterbehilfe, so gibt es Menschenrecht auf Entscheidung der Eltern über ihre Kinder, wo individualisiert entschieden wird. Also die Einführung der Schulpflicht im 18. Jahrhundert war sicher nicht eine Entscheidung der Eltern, die haben gesagt, schrecklich wir brauchen das Kind bei uns auf dem Bauernhof und jetzt muss es in die Schule gehen. Wie auch immer Schulpflicht im 18. Jahrhundert eingeführt worden ist, bei uns durch Kaiserin Maria-Theresia, das war kein Elternwahlrecht, sondern staatlicher Entscheid. Das Elternwahlrecht im Moment ist vorgeschoben, das Bedürfnis der Eltern, dass sie gute Bedingungen und Familienentlastung benötigen, das ist natürlich ganz richtig.

Notwendige
Entwicklungen für eine inklusive Schule

Mit einem Stopp der Aufnahmemöglichkeit in die Sonderschulen gibt es einen Rattenschwanz an nachfolgenden Entwicklungs-Notwendigkeiten, die wir dann Schritt für Schritt umsetzen müssen, die jetzt verzögert oder verhindert werden: schulinterne Fortbildung, schulinterne Begleitung, didaktische Begleitung, Supervision für LehrerInnen und lauter solcher Dinge, die alt bekannt sind, die manche hassen, manche fordern, dann braucht es diese einfach, um die Systemänderung abwickeln zu können. Schulassistenz-Fragen müssen gelöst werden: Wer geht mit dem Kind jetzt auf das WC? Sollen das die LehrerInnen machen, okay gut, bin sehr dafür, dass es die LehrerInnen machen. Unter bestimmten Bedingungen sollten es AssistentInnen dazu geben. Dann: Was passiert mit den Räumen? Man kann mehrere Räume haben unter Umständen, wenn es die Sonderklassen nicht mehr gibt. Was ist das für Didaktik mit mehreren Räumen? Wie ist dann die Mischung der Arbeitsgruppen, wie können die wofür verwendet werden? Außer man sagt okay, fünf, acht oder zehn Kinder wieder in einen anderen Raum, aber sie sind ein Teil unserer Klasse und beim Singen, dann dürfen sie reinkommen und daneben sitzen. Dann fängt der ganze Zirkus der Selektion wieder an. Aber der Stopp der Aufnahme hätte eine Systemwirksamkeit, zwar keine von heute auf morgen, aber Schritt für Schritt für Schritt müsste konsequent gehandelt werden. Das würde eine politische Entscheidung erfordern, die bei uns nicht in Sicht ist.

Und für die ForscherInnengemeinschaft was würdest du da sagen, was sind da die interessantesten Sachen?

Partizipative Forschung

Ja die ForscherInnen, die sollten halt auch ordentlich begleiten und unterstützen. Die ForscherInnen müssen aus ihrer Distanz heraus. Sie müssten beginnen mehr von den realen Phänomenen auszugehen, induktiv von den realen Phänomenen, ihr bestes Wissen einbringen, das sie dann auch wieder an die Handelnden zurückspielen können. Im Sinne einer Form von Handlungs- und Aktionsforschung oder einer Grundorientierung, die sehr nahe an den handelnden Personen ist und trotzdem höchstes theoretisches Wissen mitverarbeitet und das alles als Prozess sieht. Ich denke da an Paul Willis mit seiner Schulethnografie »Spass am Widerstand«60 uralt und von der Qualität immer noch absolut vorbildlich. Ich denke an Bourdieu, der InterviewerInnen einsetzte, die dem Habitus der interviewten Personengruppen möglichst nahekommen und imstande sind, den entsprechenden gesellschaftlichen Raum zu repräsentieren. Bourdieu nennt eine Untersuchung über die Sprache von AfroamerikanerInnen, in der junge AfroamerikanerInnen gebeten wurden, die Interviews durchzuführen. Es ging darum, die Verzerrungsfaktoren durch die habituale Distanz zwischen InterviewerInnen und Befragten zu vermindern. Die Vertrautheit im Interview ermöglicht authentischere Äußerungen und Selbstrepräsentationen. Dies erinnert an »Peer-Interviews«, könnte heute gesagt werden. Bourdieu geht allerdings nicht so weit, die Interviewten in »kommunikativer Validierung« direkt in die Interpretation einzubeziehen, ich sehe auch nicht, dass Aktionsforschung für ihn eine Perspektive war61. Das Gesagte gilt natürlich für die Schulforschung, die Beteiligung der LehrerInnen, der Kinder und der Eltern genauso. Wir verwechseln ja oft Aussagen mit Wirklichkeiten und es sind immer Bedeutungsbildungen in einem bestimmten Setting entscheidend. Wie sehr das Setting der wissenschaftlichen Forschung den Gegenstand beeinflusst und auch deren Erkenntnis beeinflusst, altbekannt, das muss halt Wissenschaft zur Kenntnis nehmen. Dass WissenschaftlerInnen nicht von einer Außenposition von außerhalb über einen Gegenstand forschen können. Wir können nicht ohne eine bestimmte Form von systemischer und persönlicher Selbstreflektion und kommunikative Validierung auf andere blicken. Also das sind schon große Herausforderungen für Wissenschaft.

Das ist ganz spannend. Und nochmal zurück zu den letzten Jahrzehnten Integrationspädagogik und integrationspädagogische Forschung, was würdest du da sagen von den Sachen die du selber gemacht hast und aber auch von anderen, was sollte auf keinen Fall in Vergessenheit geraten?

Blick auf Behinderung

Ja, also was ich selbst geforscht habe, das heißt, ich habe sehr viel geschrieben, aber sehr quer durch den Gemüsegarten und sehr oft aus aktuellen oder drängenden, oder verzweifelten Anlässen, weniger aus grundlegenden wissenschaftlichen Motivationen heraus. Ich bin insofern ja auch kein klassischer Integrationsforscher. Oft bin ich bei Forschungsanträgen gescheitert, die Begutachtungspraxis der großen Forschungsfonds ist ja ein eigenes Thema, da wird der Versuch bei sozialer Innovation mitzuwirken, Tabus aufzubrechen, nicht unbedingt bevorzugt positiv bewertet. Ein gelungenes großes Kulturprojekt, das wir in einem großen Team gemacht haben, war das Projekt über das Bildnis des behinderten Mannes vom 16. Jahrhundert, ein partizipatorisches und transdisziplinäres Projekt62. Da sind Bilder und Repräsentationen von behinderten Menschen bis heute angesprochen, bedeutsame Hintergründe der sozialen, kulturellen und auch ökonomischen, historischen Entwicklung des Blicks auf behinderte Menschen, die Behinderung produzieren und reproduzieren.

Rolle der
Sonderpädagogik

Also ich denke die Sonderpädagogik darf sich nicht in die Integration verwandeln oder es darf nicht sein, dass inklusive Pädagogik sich als eine humanisierte oder verschwommene neue Form von Sonderpädagogik entwickelt, was manchmal passiert, manchmal auch nicht und was die Disability Studies manchmal zu recht, manchmal völlig zu Unrecht an der inklusiven Pädagogik kritisieren. Die Vorstellung, ersetzen wir inklusive Pädagogik durch Disability Studies, kann ich nicht teilen, wobei unglaublich viel zu lernen ist aus der Perspektive der Disability Studies.

Reale gesellschaftliche Bedürfnisse kooperativ analysieren

Aber ich möchte nochmals den Primat des Zugangs zu realen gesellschaftlichen Bedürfnissen – von gesellschaftlicher Praxis – betonen, es geht um ökonomische, kulturelle und politische Zugänge. Auch hier ist der Entwicklung von Kooperationsprozessen in der Forschung der Vorzug zu geben. Um diese Bedeutungszuschreibungen, die letztlich die Organisation von Schule oder andere inklusive Lebenswelten determinieren oder stark beeinflussen, besser durchschaubar zu machen. Und die Lebens- und Forschungswelt Universität dazu.

Und gab es da in den letzten Jahren Sachen, wo du sagst, das müsste unbedingt im Gedächtnis bleiben?

Auf Schule bezogen meinst du?

Ja, auf Schule bezogen.

Hast du die Nachhilfe für einen Sektionschef63 gesehen, die wir geschrieben haben?

Ja.

Nachhilfe für
einen Sektionschef

Da haben wir in einer der Nachhilfe-Lektionen mehrere Studien genannt, da ist die kanadische Studie dabei, diese große, wirklich mächtig große kanadische Studie und diese schweizerische Studie von Eckhard, diese Längsschnittuntersuchung. Die Studien zeigen, wir haben für den Erfolg von Inklusion schon empirische Evidenz, bei aller methodischer Vorsicht, die geboten ist. Die so lange gestellte Frage, lässt sich Inklusion überhaupt empirisch begründen, ist gelöst.

Analysen institutioneller Diskriminierungen und Barrieren

Die beiden Studien, die ich jetzt genannt habe, sind dafür Beispiele. Und die ganze Geschichte der Reformpädagogik und inklusiven Didaktik, wir haben das doch alles vorliegen. Das ist ja das Absurde, wir wissen alles, wir haben alles, also müssen wir uns eigentlich die Frage stellen, warum funktioniert es nicht. Und warum ist dieses Ständische und Meritokratische so mächtig und wie wirkt es bis in die handelnden Personen und in die Institutionen hinein, inklusive Universität. Also institutionelle Diskriminierung, das ist so ein Ansatz, der jetzt aus der Migrationsforschung kommt, der für uns auch sehr brauchbar erscheint, zum Beispiel. Fragestellungen der inklusiven Pädagogik müssen ein Stück anders gelagert werden und rein fundamental, weg von diesen alten sonderpädagogischen Zuschreibungsmechanismen und Fördervorstellungen, aber auch weg von diesen poststrukturalistischen Vorstellungen der Autonomie des Individuums, sondern es braucht wieder die Konzentration – ich sag es immer wieder, wie am Anfang – auf Kooperationsprozesse und den realen gesellschaftlichen Rahmen dafür. Und die müssen analysiert werden und es muss gefragt werden, was es dazu braucht, damit es gelingen kann.

Du hattest schon gesagt, die Italiener waren wichtige Einflussfaktoren. Gibt es sonst auf dieser internationalen Ebene noch Sachen, wo du sagst, das war eigentlich für deine eigene Entwicklung sehr wichtig?

Für mich selber?

Oder auch insgesamt.

Skandinavisches Normalisierungsprinzip

Sicher. Skandinavien musst du jetzt hernehmen. Das Normalisierungsprinzip, das skandinavische Normalisierungsprinzip, wobei das ja spannend ist, dass das skandinavische Normalisierungsprinzip von Nils Erik Bank-Mikkelsen so entstanden ist, dass er als hoher Beamter im dänischen Sozialministerium, zuständig für die Behindertenhilfe, in einem deutschen KZ war, ich glaube in Ravensbrück war er, und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zurück in seinen Posten in Dänemark gekommen ist und wieder angefangen hat Einrichtungen der Behindertenhilfe zu besuchen und dann gesagt hat, eigentlich geht es da zu, wie in deutschen KZs, das kann so nicht sein. Und er und andere dann angefangen haben ein Reformkonzept zu entwickeln, Ende der 1940er, 1950er Jahre, zu sagen, wie können wir diese KZ-artigen Strukturen in Sonderschulen, Heimen mit angeschlossenen Sonderschulen, wie können wir die ändern. Und so ist das skandinavische Normalisierungsprinzip entwickelt worden. Es war die massivste Form von Kritik an Institutionalisierung, an mörderischer Institutionalisierung und dementsprechenden Hospitalismus und Vernichtungsstrategien, die damit verbunden sind, die klargemacht haben, dass die Institutionalisierung der Behindertenhilfe ein Abklatsch dieser Grundidee ist, der Trennung, Institutionalisierung und Vernichtung durch Arbeit.

Deinstitutionalisierung

Und Erving Goffman hat das ja in seinem Buch Asyle für die Psychiatrie perfekt beschrieben, die Formen psychiatrischer Hospitalisierung, welche Phänomene produziert werden und was das für Folgen für die Insassen noch hat, bei solchen Fragen würde ich ansetzen, wieder. Und wir sollten fragen, wie können wir diese Phänomene der Institutionalisierung durch Abschaffung der Institution auflösen, aber was kommt dann stattdessen und wie. Wir wissen es eigentlich nur ungefähr, und wie Inklusion unter dem jetzigen gesellschaftlichen Verhältnis machbar ist, da ist noch vieles offen.

Und gibt es da jetzt oder gegenwärtig in Österreich noch Bestrebungen zur Auflösung von anderen Institutionen, also jenseits jetzt von diesem Schulthema spielt es irgendwie eine Rolle? Anti-Psychiatrie?

Deinstitutionalisierung in Österreich

Es gibt bei uns ein altes Konflikt-Thema der Psychiatriereform, die ist auch bei uns im halben Schritt stecken geblieben. Es gibt sie noch die stationäre Psychiatrie in relativ großem Maße, aber so wie es die alte Psychiatrie war, nicht mehr. Es gibt seit 1990 ein Unterbringungsgesetz, das einen halben Schritt zur Psychiatriereform gemacht hat, will ich mal so sagen. Es gibt in der Kinder- und Jugendhilfe schon österreichweit einen Trend zur Abschaffung der Fürsorgeerziehungsheime, die sind auch weitgehend aufgelöst und stattdessen gibt es andere Strukturen. Im Bereich der Behindertenhilfe gibt es bei uns immer noch die Großeinrichtungen und diese, wie das dann formuliert wird im Sinne einer halben Modernisierung, diese dezentralen Einrichtungen, kleinere Heime, dezentral und Wohngemeinschaften, die aber letztens immer noch am Paradigmata der Betreuung orientiert sind, nur dezentraler. Dies hat wenig mit Selbstbestimmung zu tun, und dann gibt es halt auch diese Tendenz zur Deinstitutionalisierung in kleinem Maße, also das ist ein langes Entwicklungs- und Kampffeld. Und das gibt es im Rahmen der Psychiatrie auch und in der Kinder- und Jugendhilfe kenne ich mich nicht so gut aus. Sonst wüsste ich im Moment nicht wo jetzt noch groß Heimstrukturen unterwegs wären oder Großeinrichtungen, oder denkst du noch an wen anders?

Nein, aber die drei Felder.

Dann bleiben nur noch Gefängnisse und Großeinrichtungen für Flüchtlinge und natürlich der riesige Bereich der Altenhilfe, der in der Bearbeitung der Folgen der UN-BRK so leicht vergessen wird, aber sonst ist die Schule eine der wichtigsten Formen der Institutionalisierung.

Was waren aus deiner Sicht die interessantesten Streitpunkte innerhalb der Community der IntegrationsforscherInnen?

Die interessantesten?

Ja.

Innerhalb der Community?

Genau.

Einbeziehung
von Betroffenen

Naja, okay. Auch diese Community ist eine universitäre Community und auch dort spielt es sich ab, wie auf allen Universitäten. Also es ist diese universitäre Dynamik halt sehr stark zu spüren und es ist die Frage, wieweit ist dort die Anbindung dieser Community an irgendwelche Kulturen der Betroffenen. Von der Tradition haben die IntegrationsforscherInnen sich relativ leicht, aber auch nur zum Teil, mit Eltern zusammengetan. Jetzt mit behinderten Personen lieber nicht. Und behinderte Personen haben es ihnen auch nicht leicht gemacht sich mit ihnen zu verbünden und so gibt es dann auch ziemliche Ablösungskämpfe. Also ich denke nur was da zwischen Hans Wocken und dann dem Hamburger Zentrum für Disability Studies (ZeDiS) passiert ist, das war so ein archetypischer Prozess von Ablösungskrisen. In dem Buch, das Petra Flieger und ich geschrieben oder herausgegeben haben, über Menschenrechte, Inklusion, Integration64, da habe ich im Vorwort das Thema Angst hineinformuliert. Partizipation ist ein Thema, Angst ist ein weiteres zentrales Thema, wie gehen die ForscherInnen damit eigentlich um. Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, dazu gibt es ein uraltes Buch von Devereux65, das immer noch sehr interessant ist, das diese epistemische Frage der Eigenbeteiligung im Gegenstand und der Eigenkonstruktion stellt, der selbstverständlich auch die Inklusionsforscher ausgesetzt sind. Aber so etwas wie eine große Einigung, was prioritär wäre, weiß ich nicht, ob die möglich ist, ob sie überhaupt sinnvoll ist, keine Ahnung. Also kleiner kann ich es nicht machen, jetzt aus meiner Ruhestandsperspektive.

Welche MitstreiterInnen waren besonders wichtig für dich selber?

Für mich?

Ja.

MitstreiterInnen

Erstens die Gleichbetroffenen, also die Community der behinderten Personen, die Selbstbestimmt Leben Community, dann ein Teil von kritischen Eltern und ein Teil von kritischen und verbündeten Experten. Also herausleuchtendes Beispiel ist für mich von meiner Geschichte her Ernst Klee. Der sich auch so weit vorgewagt hat, dass er dann von der Selbstbestimmt Leben Bewegung an den Rand gedrängt wurde. Ernst Klee war als Theologe und Sozialpädagoge wirklich ein solidarischer Mitkämpfer der frühen Behindertenbewegung. Die Frage ist, wie gehen wir mit Abgrenzungsfragen um und wie weit ist Ablösung als ein fundamentales Entwicklungsprinzip sowohl familiär als auch gesellschaftlich für Individuation, wie auch immer wir es nennen, ein zentral wichtiges Thema. Wie weit ist dieses Ablösungsprinzip nötig, braucht es im Ablösungsprinzip Bösewichte, die wir bekämpfen können? Und es ist auch unsere große Frage, wie weit bekämpfen wir das Bildungsministerium, den Staat, die Lehrergewerkschaft als die Bösen, oder wo schaffen wir es so eigenständig aufzutreten, dass wir auf gleicher Ebene mit gleicher Macht mit dem Gegenüber in einen Aushandlungsprozess treten können, dies ist auch schon die Frage. Oder ist dieses sich zum Opfer machen nicht auch ein Zeichen der Schwäche und nicht der Emanzipation. Was leicht nachvollziehbar ist in der Situation der strukturellen Schwäche in der wir sind, wenn rundherum Austeritäts- und Abgrenzungspolitik eine neue Konjunktur hat. Aber wie ist in unserem Agieren auch eine Mitreproduktion dieser Schwäche mit drinnen, weil wir uns die Stärke nicht mehr zutrauen, oder so. Und wen finden wir als Kooperationspartner?

Gesellschaftspolitisches Klima der Veränderung

Das heißt, wenn ich den historischen Prozess da in Italien mir vergegenwärtige, von damals in den 1960er Jahren, ein anderes gesellschaftspolitisches Klima, aber damals waren es die Gewerkschaften, die Kommunisten, die christlich-sozialen und die Experten, die damals SonderpädagogInnen waren, die gemeinsam diese Änderung herbeigeführt haben. An die Betroffenen selbst kann ich mich nicht daran erinnern, dass die damals eine besondere Rolle gespielt hätten, auch die Eltern nicht, sondern das war dieser gesellschaftliche Prozess der Gesellschaftsveränderung als historisches Klima im Hintergrund, Ablösung der Politik von der Nachkriegsgeneration. Der zweite Weltkrieg war endgültig vorbei, es gab eine ökonomische Hochphase. Die Entwicklung brauchte diese Auseinandersetzung mit dieser Weltkriegsgeneration nicht mehr, eine Ablösung von dieser verzweifelten Nachkriegs- und doch endlich Friedenspolitik zu machen stand an. Aus dem heraus sind dann Reformen entstanden. Heute ist dieses Klima nicht so, heute gibt es andere große gesellschaftliche Konflikte, wenn man sich die ganzen ökonomischen Krisen anschaut, die jetzt laufen und wie kann man aus diesen Krisen heraus wieder Partner finden?

Unterschiedliche Interessen an Bildung

Also nachdem, was ich zuerst gesagt habe, wie geht man mit dem Interesse der Wirtschaftsverbände um, auf Humankapital, wie geht man mit dem um? Sagen wir »igitt« oder sagen wir »ist mir völlig egal, weil ich bin ja die Herrin und bin immer an Kindern orientiert«, oder die alte Geschichte: Schule hat eine Bildungsfunktion, eine Selektionsfunktion und eine soziale Funktion. Holen wir uns das wieder mal her, wer ist an welchen Funktionen interessiert. Also die Wirtschaftsverbände haben ein Interesse an dieser Bildungsfunktion, in der Variante Qualifikation, ganz offensichtlich. Die haben kein Interesse an dieser Sozialfunktion. Aber fortgeschrittene Unternehmen würden das nicht mehr so ohne weiteres unterschreiben, die wissen, dass Arbeitsprozesse auch soziale Prozesse sind und Kooperationsprozesse sind, da gibt es schon einiges an interessanter Parallelität mit der Organisation von Betrieben im projektorientierten, dezentral und international agierenden Kapitalismus, und wie weit lassen wir uns aber dann ein auf derartige Tendenzen. Die Gewerkschaft interessiert Inklusion sowieso kaum. Also ich meine als Gesamtgewerkschaft. In Deutschland hat die Bildungsgewerkschaft schon gewisses Interesse, in Österreich überhaupt nicht, aber die Gewerkschaftsverbände als große Verbände sind noch anders als die Bildungsgewerkschaft orientiert. Also wer geht an diese großen Interessensverbände heran und Österreich ist ja wahrscheinlich noch stärker als Deutschland korporatistisch geprägt, das heißt letztlich auch politisch verankert in der politischen Entwicklung und Macht von Interessensverbänden. Das wird in Deutschland auch so sein, aber in Österreich ist er wahrscheinlich noch stärker dieser Neo-Korporatismus, den die Liberalen auch noch abschaffen wollen und durch die Kommodifizierung von allem und jedem ersetzen wollen, auch die Bildung. Nötig ist eine Analyse, welches sind die staatstragenden Interessensverbände eigentlich. Und wie tritt man an die staatstragenden Interessensverbände heran, wer sind die und wie geht denn das überhaupt? Insofern ist die Frage der Kooperation auch eine Frage der Analyse, wer sind denn überhaupt die treibenden Kräfte? Wie ist die Verbindung mit institutioneller Entwicklung von Schule? Wenn das nicht gefragt wird, passiert so etwas, wie es in Hamburg passiert ist. Wo dann, so wie ich es mitgekriegt habe, eher bürgerliche Eltern Schulreform verhindern. Das ist das ständische, das ist der ständische Blick auf eine differenzierende Schule, das ist die Stärkung der selektiven Funktion von Schule. Also es ist die Frage, wie weit immer noch letztendlich von diesen drei Uraltfunktionen Bildungs-, Selektions- und Entwicklungsfunktion sehr viel von unseren Dilemmas beschreiben. Wobei immer noch die Selektionsfunktion dominiert und an ihr offensichtlich die ganze Schulentwicklung als Projekt der Moderne und der alles vermarktlichenden Postmoderne hängt. Wer hat an dem Interesse. Das wäre auch schon ein schönes Forschungsprojekt, ein politisch geleitetes Forschungsprojekt.